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L’Eroica 2009

Erlebnisbericht von Walter Weibel

Wie musste ich doch schon oft schmunzeln, wenn wir uns auf einer Vereinsausfahrt einem Stück Strasse näherten, das nicht wie blank geputzt, schön fein und frei vom kleinsten Löchlein aussah. Böse Blicke auf den Tourguide, aus Angst um die neuen, teuren High Tech Superreifen und den auf Hochglanz polierten Edelcarbonrahmen mit ultraleichten Spezialfelgen und knallharten Spaghettispeichen, waren jedes Mal auszumachen. Dann wurden auch schon die obligatorischen Sprüche und Flüche nach hinten gereicht – Scheisse – Schotter – Naturstrasse – umkehren! Stets fragte ich mich dann, wie das wohl früher, zu Zeiten von Ferdi Kübler, Fausto Coppi und all den grossen Helden der Landstrasse war? Sind die auch einfach umgekehrt oder haben über die Tourleitung geschimpft?

Da redete doch unser Walti Müller, der bekanntlich ja keine verrückte Fernfahrt auslässt, diesen Herbst plötzlich mal was von der l’Eroica. „Was ist das", wollte ich von ihm wissen. „Ja das ist so ein Velorennen in der Toscana", war sein Kommentar. „Man kann verschiedene Distanzen fahren z.B. 38 km, 75 km, 145km oder 205 km. Entscheidend ist, man fährt mit alten Velos, altem Material und meistens auf Naturstrassen. So genau weiss ich das auch nicht, ich habe mich einfach mal für die 205 km Tour angemeldet." Na ja – etwas anderes ist von „Marroni" ja auch nicht zu erwarten. Auf jeden Fall hatte er bei mir Interesse geweckt. Das war es doch! Einmal was Anderes erleben. Da ich Fernfahrten eigentlich auch mag, vor 205 km keine Angst habe und zudem die Toscana liebe, stand der Entschluss für mich bald fest. „Walti – ich bin dabei."

Das Abenteuer ging mit meiner Zusage schon los. Ein altes Rennvelo musste her, mit klassischen Bügelpedalen, die Schaltung muss laut Reglement am Rahmen angebracht und die Kabelzüge aussen verlegt sein. Erste Bedingung, das Velo muss älter als Jg. 1987 sein. Das mit dem Velo war gar nicht so ein Problem. Sofort ging mir durch den Kopf – ha – mein erstes Rennvelo erfüllt doch diese Bedingungen. Ich hatte mein schönes Olmo vor über 10 Jahren einer Mitarbeiterin verkauft. Sie musste es mir einfach ausleihen, denn das gute alte Velo hatte ein Recht darauf, wieder einmal bewegt zu werden. Bei ihr stand es nur einsam in der Garage herum. Kurz entschlossen habe ich ihr mein Vorhaben erklärt und siehe da – ich hatte mein altes Olmo wieder unter dem Füdli. Es schien irgendwie eingegangen zu sein. Es war so kurz und lebendig. Die paar Gänge die es hat, waren schnell durchgeschaltet und die Bremsen getestet. Super – es fährt und funkelt wie neu.


Jetzt mussten noch alte Rennvelo-Schuhe und alte Trikots aus schön beissender Wolle her. Wie es halt so ist, hatte ich meine alten Rennschuhe vor einigen Jahren weggeschmissen, weil sie im Keller langsam grau wurden. Auf Anfrage bei dutzenden Kollegen hiess es immer das Gleiche: „Tut mir leid, das habe ich letzthin gerade fortgeschmissen, was sollte ich mit dem Zeug?" Bravo – wo soll ich jetzt Schuhe herkriegen, die niemand mehr hat und verkauft? Nachdem ich sämtliche Velohändler in der Umgebung abgeklappert hatte, wurde ich endlich fündig. Velo Maier zauberte ein altes Paar Rennschuhe hervor - weiss Gott wo, er die her hatte. Noch fehlten aber die „Plättli" zu den Schuhen. Die gab’s schon gar nirgends mehr zu kaufen. Also habe ich mir die Dinger halt selber gebastelt. Ein alter Lederhelm oder wie man so ein Gerippe sonst nennt, war doch tatsächlich bei Velo Morof auch noch aufzutreiben. Jetzt fehlten nur noch die Trikots. Dafür hatte aber Walti Müller die Lösung. Vom RV Winterthur konnte er so alte Klamotten organisieren. Bruno Reali kramte auch noch alte Seuzacher Leibchen hervor, die er uns mitgeben konnte. Schade nur, dass wir nicht in denen fahren konnten. Vermutlich waren die Vereinsmitglieder damals viel kleiner als heute oder hatten keine Bäuche. Auf jeden Fall hatte ich keine Chance, in dieser Zwangsjacke tief durchzuatmen.

Das letzte Problem war schliesslich noch, für mich ein Hotel zu finden. Walti Müller hatte sich natürlich schon längst darum bemüht und eine gediegene Bleibe für sich und seine Frau gefunden. An der l’Eroica nehmen rund 2000 Fahrer aus der ganzen Welt teil. Man stelle sich vor, wie schwierig es in dem Fall ist, ein paar Tage vor dem Anlass noch ein Zimmer zu finden, das nicht gerade 100 km vom Startort entfernt liegt. Mit viel Willen und hohen Telefongebühren schaffte ich aber auch das. Die Einsicht kam einmal mehr auf, dass alles geht, wenn man nur will.

So – da waren wir nun also am 3. Oktober 2009 in Gaiole in Chianti. Bereits am Samstag vor dem Rennen wimmelte es in dem kleinen Weindorf nur so von Velofanatikern aus aller Welt, mit strammen Waden und mehrheitlich grauen Haaren. Es war irgendwie ein gutes Gefühl zu wissen, dass man nicht alleine verrückt ist. Junge, spritzige Rennfahrer waren eher selten auszumachen. Der alte Geist der Helden von früher schien dafür hinter jeder Hausecke hervor zu blinzeln und der Veranstaltung ein ganz besonderes Flair zu geben. Nicht Spitzenleistung war gefragt, sondern einfach Nostalgie, Kameradschaft und Freude am Radsport. Natürlich durfte ein Velo-Flohmarkt nicht fehlen. Da gab es doch nun an einem Haufen wirklich alles zu kaufen, was auch an einem 100 Jahre alten Velo noch kaputt gehen könnte. Vor allem hätte ich es mir so einfach machen können und dort Schuhe, Plättli, Leibchen, Bremsklötze und einfach alles erhandeln können – selbstverständlich aber nicht ganz billig.

„Marroni" und ich liessen es uns natürlich nicht nehmen, die Strecke zu inspizieren. Also rüsteten wir auf, für die erste Spähtour von 50 km. Anfangs war eigentlich alles normal. Es ging eine kleine Passstrasse hoch zum Castello Brolio. Die Strecke war leicht auszumachen, denn sie ist das ganze Jahr über permanent beschildert. Kurz vor Castello Brolio wurde es zum ersten Mal so richtig spannend. Das erste Stück Naturstrasse stellte sich uns in den Weg, und dann gleich mit etwa 15 % Steigung. Kein Problem, denn wir waren ja noch frisch. Doch plötzlich – was war denn das? Das Hinterrad fing einfach an durchzudrehen. Der Schweiss spritzte uns aus der Stirn. Nicht etwa weil wir schon müde waren – nein – sondern weil unsere Schuhe in den verdammten Bügelpedalen steckten, wir die Kurbeln kaum mehr rumkriegten und schon gar nicht mehr aus den Pedalen schlüpfen konnten, weil unsere Hände am Lenker gebraucht wurden und wir uns ganz einfach nicht so routiniert bücken konnten, um die Riemchen zu lösen. Die erste Lektion war uns schon ganz schön in die Knochen gefahren, obwohl alles gut ging. Es blieb die Erkenntnis: „Manchmal musst du einfach würgen, wenn du kannst." Kaum oben auf Schloss Brolio zahlten wir weiteres Lehrgeld, denn wo es raufgeht, muss man auch wieder runter. Selbstverständlich geschieht das bei der l’Eroica nicht auf einer schönen Asphaltstrasse, sondern wie angedroht auf Schotter. Wir hingen zaghaft an den Bremsen und schlingerten den ersten Berg auch wieder irgendwie hinunter. Wir fragten uns, ob es wohl Glatteis gegeben hatte. Unsere Räder standen mal quer, mal gerade, mal standen sie fast still und dann rasten sie wieder, obwohl wir ja wacker bremsten. Irgendwie kannte ich dieses Gefühl vom Biken, wenn sich der Boden scheinbar bewegt und du kannst nichts machen. Was lernt man daraus? Am besten nichts machen und das Velo einfach laufen lassen. So tasteten wir uns allmählich an das ungewohnte Terrain heran, mal rauf mal runter. Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich das bekannte Zischen ganz unten am Velo vernahm und sich der Esel kaum mehr lenken liess. Der erste Plattfuss erwischte mich. Kein Wunder bei diesen steinigen Wegen. Offenbar hält das ein moderner Schwalbe Reifen, gefüllt mit 7 bar, doch nicht aus. Vorerst sahen wir aber kein Problem auf uns zukommen, denn wir hatten ja noch jeder einen Ersatzschlauch. Denkste – Mein Ersatzschlauch hatte schon im Neuzustand Löcher. „Marroni" lieh mir seinen und weiter ging‘s. Allmählich wurden wir zu Schotterspezialisten und rasten ganz schön die Hänge hoch und wieder runter. Ca. 2 km vor dem Ziel wurden wir fast überheblich. Mit über 40 Sachen bretterten wir auf einer Steinpiste durch einen Weinberg. Wie auf Kommando machte es bei Walti und mir wieder päng. Plattfüsse 2 und 3 stellten sich ein. Kein Problem dachten wir, denn wir haben ja noch Flickzeug. Weit gefehlt. Die Gummilösung in meinem Bordwerkzeug schien so alt zu sein, wie das Velo selbst. Trotz der verschlossenen Tube kam da nur noch ein brauner Brei hervor, der lediglich meine Finger verklebte und ein Fluchen im Duett auslöste. Statt Gummilösung blieb uns nur die Notlösung. Ich lieh meinen noch ganzen Schlauch Walti aus und der beendete unsere Exkursion alleine. Ich wartete in den Weinbergen bis Walti mich mit dem Auto abholte.

Am Sonntag, 4. Oktober 2009 endlich das Rennen. Um 06:15 standen wir am Start und froren uns die Finger ab. Ich hatte meinen Hintern in viel zu enge Wollhosen gequetscht, was sich noch rächen sollte. Am Körper trug ich nur ein Wollleibchen, denn für eine Windjacke war ganz einfach kein Platz mehr vorhanden. Die Plattfussgeschichte von gestern hatte uns wieder einiges gelehrt. Walti und ich haben je 4 Schläuche ins Trikot gewürgt. Dazu kamen noch ein Fotoapparat, ein paar Spezialkalorienbomben für den Notfall, das Portemonnaie sowie die Startkarte und dann war unsere Transportkapazität auch schon ausgeschöpft. Walti Müller ging’s etwa besser, denn er fand noch Platz für ein dünnes Jäcklein. Bei Dunkelheit und guten 5° C ging’s endlich los. Die gute Stimmung liess uns die Kälte auf der Nachtfahrt einfach vergessen. Es gab zwar keinen Massenstart, aber zahlreiche Mitradler wollten, wie wir, möglichst früh los, um die 205 km zu bewältigen. Noch waren lustige Sprüche in allen Landessprachen zu hören. Vor allem waren natürlich die Italiener gut drauf, die mit ganzen Club-Delegationen anwesend zu sein schienen. Bald schon ging’s wieder die Steigung hoch zum Castello Brolio. Die Strasse wurde echt romantisch, von hunderten Windlichtern beleuchtet. Wir waren gewarnt und hielten schönen Abstand von unseren Mitfahrern. Es dauerte denn auch nicht lange, bis die ersten Flüche zu hören waren und das bekannte Scheppern von umstürzenden Rennvelos durch den Wald hallte. „Marroni" hatte unglaubliches Glück, denn während dem er spulend abgedrängt wurde und sich in bedrohlicher Schräglage auf eine Landung auf den Waldboden vorbereitete, fand er einen dicken Baum, der goldrichtig dort stand, um sich daran festzuhalten. Auf der ersten Abfahrt, wo auch wir gestern unsere Spesen hatten, ging’s bereits drunter und drüber. Die ersten nicht Kies gewohnten Sonntagsradler legten sich schon mal hin. Natürlich nicht schön am Rande der Strasse, sondern mitten drin, so dass die anderen schauen konnten, wie sie vorbei kamen. Es wurde merklich ruhiger im Feld und jeder schien sich Gedanken zu machen, was da wohl noch käme. Dafür spannten der Vollmond und die Sonne allmählich zusammen und tauchten die Weinberge im Chianti in ein überaus gespenstisches, aber warmes Licht. Kalt war mir schon lange nicht mehr. Im Gegenteil, ich begann auch auf den Schotterabfahrten tüchtig zu schwitzen.


So langsam zeigte sich Siena, die mittelalterliche Perle der Toscana, zwischen sanften Hügeln. Beim Anblick der prächtigen Stadt fühlte ich mich unweigerlich ein paar Jahrhunderte zurück versetzt. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, mit Schwert, Lanze und einem alten Drahtesel die Stadt zu erobern. Lange konnten wir nicht träumen, denn ständiges rauf und runter auf den Kiesstrassen der Colli Senesi verlangten äusserste Konzentration. Trotzdem wurden wir zu einem freundlich lächeln gezwungen, denn ein Kamerateam von RAI-Sport verfolgte uns hartnäckig.
Mit der gemütlichen Sonntagmorgenausfahrt war’s nun endgültig vorbei. Das Höhenprofil verhiess uns einen deftigen Aufstieg von gut 10 km auf die Hochebene von Montalcino, der Heimat des Brunello. Der endlos scheinende Bergauftrail mit bis zu 15 % Steigung auf teilweise losem Geröll brachte meine Oberschenkel endgültig zum Kochen. Dank meiner zu engen Hosen, löste ein Muskelkrampf den anderen ab. Endlich war Montalcino erreicht und es gab eine anständige Verpflegung. Chianti, Salami und süsse Kuchen brachten die verlorenen Kalorien zurück. Rassige Italienerinnen in ihren mittelalterlichen Trachten munterten die geschundenen Fahrer durch ihre fröhliche Art wieder etwas auf. Mittlerweile war das auch notwendig, denn die Hälfte der 205 km, mehrheitlich mit Naturstrassen, war geschafft. Von Montalcino nach Gaiole zurück liessen die Veranstalter wohl keinen einzigen Hügel aus, um uns raufzuscheuchen. Was anfangs ja noch einigermassen gut ging, wurde immer mehr zur Qual. Nur noch ganz wenige, wirklich harte Kerle, drückten jeden Hügel durch. Was soll’s mit Schieben kam man fast so schnell vorwärts, nur die Schuplättli litten gewaltig.


Bei einer Abwärtsfahrt mit Vollgas verspürte ich plötzlich ein Rumpeln, welches weder zum Velo noch zum Feldweg passte. Mein Hinterrad hatte zwar keinen Platten, doch plusterte sich mein Schwalbe Hightech Reifen auf wie ein Kugelfisch. Je länger ich mit grossen Augen hinschaute, desto eher schien er zu platzen. Mein Gott, was nun? Walti Müller ärgerte die Panne fast noch mehr als mich. Unsere Tour schien akut gefährdet zu sein, denn Servicestellen gibt es bei der l’Eroica genau so wenig wie ärztliche Betreuung, schon gar nicht fern ab von aller Zivilisation. In dieser Situation half nur „Marronis" Händlertalent. Wie ein Luchs musterte er jeden Vorbeifahrenden, ob er wohl nicht einen Ersatzreifen dabei hätte. Tatsächlich konnte er einem Kollegen aus Hamburg einen Reifen abknüpfen. Es zahlte sich aus, dass wir zuvor mit den Kumpels aus dem nördlichen Flachland ein paar freundliche Worte wechselten. Kameradschaft ist denn auch alles, was bei der l’Eroica zählt und hilft.
Im weiteren Verlauf unserer Fahrt wunderte ich mich immer wieder, weshalb Walti Müller auf den lausigen Strassen plötzlich so schnell bergabfahren konnte. Die Lösung war ganz einfach. Seine Hinterradbremse war mittlerweile so verhockt und ging so schwer, dass er sie kaum mehr durchdrücken konnte. Nicht nur bergab wurde „Marroni" immer schneller, sondern auch bergauf fuhr er einfach allen davon. Kunststück – seine 16‘000 Trainingskilometer kamen nun voll zum Tragen. Ich wünschte mir, ich hätte nur die Hälfte seiner Kilometer in den Knochen. Es half aber nur eins – quälen wie alle anderen und durchbeissen.

18:55 – endlich lag das Ziel vor uns. Es war schon wieder dunkel. Mit letzter Energie brachte Walti seine alte Karre nach dem Zielstrich zum Stehen. Ziemlich kaputt und dreckig reichten wir uns glücklich die Hände. Nun durften auch wir uns als Helden der Landstrasse fühlen. Das Ziel war erreicht, ohne Unfall und Totalcrash. Nicht einmal die vier Schläuche, die jeder von uns mitschleppte, haben wir gebraucht. Mit Genugtuung stellten wir fest, dass die alten Rennräder von früher sehr viel aushalten. Schrott ist also keine Frage des Alters. Walti Müller und ich sind uns einig, dass wir die paar Meter Naturstrassen in unserer Gegend, die uns manchmal in die Quere kommen, nun gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen werden.

Ich hoffe mit meinem Erlebnisbericht bei einigen Clubmitgliedern die Lust wecken konnte, doch auch einmal die l’Eroica erleben zu können. Es müssen ja nicht unbedingt 205 km sein.
Mit Absicht habe ich nicht von den leckeren Weinchen und der italienischen Küche berichtet, denn ich will ja nicht grausam sein, doch Chianti und Brunello gehören zur Toscana wie die Strada biancha (Naturstrassen) und die Lebensfreude
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Euer Walter Weibel